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Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofes:

Vorschaltsgesetz zur Gebietsreform ist nichtig

Freitag, 09. Juni 2017, 12:47 Uhr
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat mit seinem heute verkündeten Urteil entschieden, dass das Vorschaltgesetz zur Durchführung der Gebietsreform in Thüringen vom 2. Juli 2016 (Vorschaltgesetz) nichtig ist. Der Entscheidung liegen folgende Erwägungen zugrunde:...

Das Vorschaltgesetz ist wegen Verstoßes gegen Art. 91 Abs. 4 der Thüringer Verfassung formell verfassungswidrig. Nach dieser Vorschrift ist Gemeinden,
Gemeindeverbänden oder deren Zusammenschlüssen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor ein Gesetz beschlossen wird, welches sie betreffende allgemeine Fragen regelt.

Zu dieser Anhörungs-
pflicht gehört, dass alle aufgrund der Anhörung erlangten Informationen den Abgeordneten vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Am 9. Juni 2016 fand die mündliche Anhörung der kommunalen Spitzenverbände vor dem Innen- und Kommunalausschusses des Thüringer Landtags statt.

Das Protokoll über diese Anhörung stand den
Abgeordneten jedoch vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf am 23. Juni 2016 nicht zur Verfügung.
Das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs enthält darüber hinaus Hinweise zur materiellen
Verfassungsmäßigkeit.

In der mündlichen Urteilsbegründung hat der Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofs folgende Ausführungen vorgetragen: Der Verfassungsgerichtshof hat sich dazu entschieden, das Urteil im Verfahren
der abstrakten Normenkontrolle gegen das Vorschaltgesetz ausnahmsweise auf Grund des vorliegenden Urteilstenors und einer knappen mündlichen Begründung zu verkünden und die vollständigen schriftlichen Gründe unverzüglich nachzureichen. Diese Verfahrensweise weicht von den allgemeinen Regeln ab. Sie ist aber hier nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs durch die besondere Konstellation gerechtfertigt, die sich daraus ergibt, dass das Vorschaltgesetz gleichzeitig mit der abstrakten Normenkontrolle und einem Volksbegehren angegriffen wird.

Im Verfahren zum Volksbegehren ist Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt auf den 14. Juni 2017. Das Urteil über die abstrakte Normenkontrolle wird Auswirkungen auf das Verfahren zum Volksbegehren haben. Gleiches gilt für die anhängigen Kommunalverfassungsbeschwerden. In dieser Konstellation rechtfertigt der verfassungsrechtliche Grundsatz des fairen Verfahrens, allen Beteiligten und
Betroffenen größtmögliche Transparenz zu gewährleisten.

Die Thüringer Verfassung gebietet, dass Gebiets- und Bestandsänderungen von Gemeinden und Landkreisen nur nach einer Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften und nur aus Gründen des öffentlichen Wohls zulässig sind (Art. 92 ThürVerf). Der Thüringer Verfassungsgerichtshof konkretisiert diese Anforderungen anhand eines Drei-Stufen-Modells.

Die erste Stufe umfasst den Entschluss, überhaupt eine grundlegende Umgestaltung der kommunalen Ebene vorzunehmen. Auf der zweiten Stufe geht es um die Leitbilder und Leitlinien der Neuordnung, die die künftige Struktur der Selbstverwaltungskörperschaften
festlegen und die Umgestaltung in jedem Einzelfall
dirigieren sollen. Auf der dritten Stufe erfolgt die Umsetzung der allgemeinen Leitbilder und Leitlinien im konkreten einzelnen Neugliederungsfall.

Dieses Stufenmodell dient der besseren Strukturierung der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Bei dem Vorschaltgesetz handelt es sich um ein Gesetz auf der zweiten Stufe, da es noch nicht selbst die Landkreise und Gemeinden neu gliedert, sondern im Wesentlichen nur das Leitbild und die Leitlinien für nachfolgende
Durchführungsgesetze festlegt. In formeller Hinsicht musste der Thüringer Landtag daher im Gesetzgebungsverfahren Art. 91 Abs. 4 ThürVerf beachten, der ihn verpflichtet, vor Erlass des Gesetzes zumindest die kommunalen Spitzenverbände anzuhören. Dem Landtag als Anhörungsverpflichteten steht es dabei frei, die Anhörung mündlich und/oder schriftlich durchzuführen und sich für die Durchführung des Anhörungsverfahrens eines Ausschusses zu bedienen.

Der Anhörungspflicht des Landtags ist aber nur dann Genüge getan, wenn alle aufgrund der Anhörung erlangten Informationen den Abgeordneten vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Auch der Schutz des freien Mandats der Abgeordneten aus Art. 53 ThürVerf gebietet eine Handhabung der Anhörungspflicht nach Art. 91 Abs. 4 ThürVerf, die dem einzelnen Abgeordneten die Möglichkeit gibt, sich selbst, unmittelbar und umfassend über den Inhalt der Anhörung zu informieren.

Für Abgeordnete, die nicht an der Ausschusssitzung teilnehmen, in der die mündliche Anhörung erfolgt, vermittelt allein ein - ggf. vorläufiges – Sitzungsprotokoll die erforderliche Information über die Anhörung.
Andere denkbare Informationsquellen, wie die Rücksprache mit Mitgliedern des Ausschusses oder der Bericht des Ausschussvorsitzenden in der Plenardebatte,
stellen dies nicht in gleicher Weise sicher.

Im vorliegenden Fall genügte das Anhörungsverfahren vor dem Innen- und Kommunalausschuss diesen Anforderungen nicht. Das Protokoll der 27. Sitzung
des Ausschusses vom 9. Juni 2016, in der die mündliche Anhörung der kommunalen Spitzenverbände erfolgte, wurde erst am 20. Juli 2016 den Abgeordneten als Druckfassung und am 22. Juli 2016 in elektronischer Fassung im Abgeordneteninformationssystem zur Verfügung gestellt.

Eine Möglichkeit zur vollständigen Information der Abgeordneten vor der Abstimmung über den Gesetzentwurf am 23. Juni 2016 war damit nicht gegeben. Hinsichtlich dieses tragenden Teils der Gründe ist die Entscheidung einstimmig ergangen.

Ferner ist auf Folgendes hinzuweisen: Unter dem Gesichtspunkt der materiellen Verfassungsmäßigkeit verpflichtet die Thüringer Verfassung den Gesetzgeber
nicht, zeitlich vor der Gebietsreform eine ebenfalls beabsichtigte Verwaltungs- und Funktionalreform durchzuführen. Auch der Erlass eines Vorschaltgesetzes ist nicht erforderlich, aber zulässig.

Gegen die vom Gesetzgeber gewählten Leitlinien, insbesondere die Mindesteinwohnerzahlen und die Stärkung zentralörtlicher Strukturen, bestehen als solche keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Landesverfassung verwehrt es dem Gesetzgeber
insbesondere nicht, prognostisch auf künftige Einwohnerzahlen abzustellen und dabei von dem Instrument einer Bevölkerungsvorausberechnung
Gebrauch zu machen. Auch musste der Gesetzgeber für Landkreise keine Freiwilligkeitsphase vorsehen.

Allerdings ist zu beachten, dass das Vorschaltgesetz mit seinen Leitlinien sogenannte Optimierungsgebote enthält, durch die eine möglichst umfassende
Neugliederung der verschiedenen kommunalen Ebenen erreicht werden soll. Als Optimierungsgebote unterliegen die Leitlinien den Anforderungen des Abwägungsgebots und können - wenn gewichtige Gründe dies rechtfertigen - im Wege der Abwägung überwunden werden. Solche gewichtigen Gründe ergeben sich aus dem Gemeinwohlprinzip des Art. 92 Abs. 1 ThürVerf.

Diese Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber jedenfalls auf der dritten Stufe, die individuelle Leistungsfähigkeit der Träger kommunaler Selbstverwaltung sowie historische und landsmannschaftliche Zusammenhänge
wie auch wirtschaftliche Verflechtungen zu berücksichtigen.

Örtlichen Besonderheiten, einschließlich solchen geographischer Natur, ist unter Betrachtung
des territorialen status quo der Siedlungsstruktur Rechnung zu tragen. In Hinblick auf die Flächenausdehnung bei der Neugliederung kreisangehöriger Gemeinden ist überdies der Schutz der örtlichen Gemeinschaft nach Art. 91 Abs. 1 ThürVerf zu beachten.

Schließlich darf oder muss der Gesetzgeber aus entsprechenden Sachgründen, insbesondere bei einer
besonderen Sachverhaltsgestaltung im konkreten Fall, den Rahmen seiner allgemeinen Leitlinien, hier der Mindesteinwohnerzahlen und der Stärkung
zentralörtlicher Strukturen, verlassen. Hinsichtlich der nicht entscheidungstragenden Hinweise ist die Entscheidung mit 8 : 1 Stimmen ergangen.
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