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Do, 09:27 Uhr
19.11.2015
Neues aus Bad Frankenhausen

Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht

Etwa 30 Einwohner der Stadt Bad Frankenhausen folgten der Einladung der evangelischen Kirchgemeinde und der Stadtverwaltung zu einer Stunde der Besinnung auf den jüdischen Friedhof. Dazu ein Bericht, der kn aus Bad Frankenhausen erreichte...

77 Jahre ist es her, dass von entfesselten SA-Horden und Mitläufern Gotteshäuser, Geschäfte und Wohnungen von deutschen jüdischen Mitbewohnern geplündert, zerstört und angezündet wurden. Viele Deutsche schauten über diese Ungeheuerlichkeiten hinweg, nehmen es als Gegeben hin. Wenn es auch in Bad Frankenhausen keine Synagoge gab, so wurden doch jüdische Bürger nach 1933 drangsaliert und vertrieben. Prominentestes Beispiel ist der langjährige Leiter des Technikums Professor Huppert. Er hatte dieses Technikum zu einer der bekanntesten Einrichtung in Deutschland gemacht, aber er wurde aus rassistischen Gründen des Amtes enthoben.

Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius) Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius)

Pfarrerin Magdalena Seifert verdeutlichte die Erinnerung an diesen schlimmen Tag in der Geschichte Deutschlands an einem Einzelschicksal:
„Wir sind hier zusammengekommen auf dem kleinen ehemaligen Friedhof der jüdischen Gemeinde unserer Stadt - um zu gedenken.

Heute vor 77 Jahren – in der Nacht vom 9.auf den 10.November 1938 wurden in Deutschland jüdische Gotteshäuser angezündet, Wohnungen und Geschäfte verwüstet, Menschen gefangen genommen, geschlagen, in Lager gebracht. Der 9.November 1938 war nicht der Beginn der Judenverfolgung in Deutschland. Die gab es schon längst in den Köpfen, in den Zeitungen, in Büchern. Aber der 9.November 1938 war ein schrecklicher weiterer Schritt – nun begann die Tat. Und es folgten unvorstellbare Grausamkeiten – 6 Millionen jüdische Frauen und Männer und Kinder wurden in den Jahren des Holocaust umgebracht. Wir gedenken ihrer.
Und wir denken auch daran, wie es gleich neben dem schrecklichen Leid des jüdischen Volkes eine schreckliche Gleichgültigkeit gab und auch eine schreckliche Zustimmung im deutschen Volk.

Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius) Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius)

In diesem Jahr ist uns am heutigen Tag des Gedenkens die Not von Verfolgung und Gewalt
sehr nahe gekommen auch in unserer Gesellschaft.
Menschen fliehen vor den Schrecken des Terrors in ihrem Heimatland und kommen zu uns und suchen Hilfe.

Ganz unmittelbar erleben wir ihre Sorge um ihr Leben und ihre Sehnsucht zur Ruhe zu kommen und einen Ort des Friedens zu finden und einen Raum, in dem sie ohne Angst bleiben können.
Vor mehr als siebzig Jahren war genau das die Sehnsucht von Menschen auch in unserem Land - in dem sich Terror und Gewalt ausgebreitet hatten.

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In der Schreckensnacht vom 9. auf den 10.November 1938 brach sich dieser Terror in schrecklicher Weise Bahn. Es wurden Synagogen angezündet und verwüstet.
Doch die Zerstörung betraf mehr als „nur“ die Gotteshäuser. Sie betraf den Nerv des jüdischen Lebens. Und das war ja die böse Absicht.

Das jüdische Leben an sich als Teil der deutschen Gesellschaft sollte ausgelöscht werden. Und dazu das Leben der jüdischen Frauen und Männer und Kinder.

Es ist eine Gefühl voller Schrecken, sich vorzustellen, wie in dieser Novembernacht die Horden der SA durch die Städte zogen mit brennenden Fackeln. Wie sie alles niederwalzten, was ihnen im Weg war. Wie sie Türen aufbrachen, Fensterscheiben einschlugen, die Einrichtungsgegenstände in den Synagogen zerschlugen und auch Menschen in dieser Nacht zu Tode prügelten. Es ist ein Gefühl voller Schrecken, sich vorzustellen – wie die jüdischen Familien das erlebt haben müssen. Diese Raserei, diese Todeswelle, die da auf sie zukam.
Wir wissen von manchen, die angesichts dieser Gefahr versucht haben, aus Deutschland zu fliehen. Wir wissen auch – es war nur ein kleiner Teil der jüdischen Familien, der diese Möglichkeit ins Auge fasste.

Es konnte nur ein kleiner Teil sein, denn für so eine Flucht waren mehrere Voraussetzungen nötig:
es mußte ausreichend Geld da sein, um die Flucht zu finanzieren
es mußte ein Ort da sein, wohin die Flucht gehen konnte – ein sicherer Ort
Wir wissen von manchen, die sich auf den Weg gemacht haben und geflohen sind aus Deutschland und deren Flucht nicht geglückt ist. Wir wissen von anderen, die angekommen sind am sicheren Ort unter den schwierigsten Bedingungen, die ihr Leben retten konnten und doch keine Ruhe gefunden haben für ihre Seele.
Ich möchte heute in besonderer Weise erinnern an den Dichter und Schriftsteller Jochen Klepper und an seine Familie.
Geboren 1903 in einem evangelischen Pfarrhaus
Studierte Theologie, ging aber nicht ins Pfarramt, sondern arbeitete beim Evangelischen Presseverband als Journalist
1931 heiratete er die 13 Jahre ältere Jüdin Johanna Stein, Witwe eines Rechtsanwalts. Sie brachte ihre Töchter Brigitte und Renate mit in die Ehe
Jochen Klepper fand eine Anstellung beim Hörfunk – Studio in Berlin
Mit der Machtübernahme des Nazis 1933 geriet seine Familie zunehmend unter Druck
1937 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was Berufsverbot bedeutete
die Familie erwog die Flucht ins Ausland, konnte sich aber nicht entschließen
kurz vor dem Ausbruch des 2.Weltkrieges konnte die ältere Tochter Brigitte über Schweden nach England ausreisen
Ende 1942 wurde die Ausreise auch für die jüngere Tochter Renate versucht, doch sie scheiterte die Deportation drohte für sie und auch für die Ehefrau Johanna, da sogenannte Mischehen keinen Schutz mehr boten, sondern zwangsweise geschieden wurden in der Nacht vom 10. auf den 11.Dezember 1942 nahm sich die Familie Klepper durch Schlaftabletten und Gas gemeinsam das Leben.

Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius) Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius)

Es gibt eine Grabstelle auf dem Berliner Friedhof Nikolassee.
Es gibt zwei Gedenktafeln an Häusern in Berlin, in denen die Familie in den 30ger Jahren gelebt hat. Es gibt seit dem 11.Dezember 2014 einen Stolperstein vor der letzten ehemaligen Wohnung in Berlin – Nikolassee zur Erinnerung an Jochen Klepper und seine Familie,
die keine Möglichkeit hatten, dem Terror zu entliehen.
Jochen Klepper hat neben mehreren Romanen zahlreiche geistliche Lieder geschrieben, die in unserem Gesangbuch zu finden sind.

Es sind wunderbar poetische und hoffnungsvolle Texte –
„die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“
auf ein Ende der finsteren Nacht der Verfolgung und des Terrors hat Jochen Klepper gehofft
leider konnten er und seine Familie ihr Leben nicht retten.“

In einem nachdenkenswerten Gebet formulierte Pfarrerin Seifert:
„Gott, du Vater Abrahams und Sarahs, du Gott deines Volkes Israel. Vor 77 Jahren wurden in unserem Land deine Häuser in Brand gesetzt. Es seien nicht ihre Gotteshäuser, dachten viele Christen. Doch es waren Gotteshäuser, offen für alle Völker. Schriftrollen deiner Worte wurden verbrannt – wie später dein Volk, das ausgerottet werden sollte. Bewahre uns davor, das Gedächtnis zu verlieren. Was du Israel und allen Völkern gesagt hast, kann nicht verbrannt oder ausgerottet werden. Deinem Volk bist du treu. Dein Wort bleibt in Ewigkeit.
In unserem Land sind auch heute Hass und Fremdenfeindlichkeit wieder in vieler Munde
Vorurteile werden geschürt, Sündenböcke werden gesucht, Es herrschen Gedankenlosigkeit und Vergesslichkeit Gib uns Aufmerksamkeit und Mut, gegen die Gewalt antisemitischer Worte und Taten vorzugehen, lass uns widerstehen, wenn Menschen, die zu uns flüchten verunglimpft und abgewiesen werden. Du hast alle Menschen geschaffen. Deine Liebe zu uns bleibt in Ewigkeit. In Israel gibt es noch längst keinen Frieden. Immer wieder herrscht Gewalt und Angst zwischen allen Seiten – im Moment mehr denn je. Lass dein Volk in Frieden in seinem Land wohnen und in Frieden mit seinen Nachbarn. Stärke diejenigen, die sich einsetzen für Versöhnung. Lass Frieden und Gerechtigkeit von ihnen ausgehen.
Wir bitten dich um solchen Frieden auch für unser Land. Für unsere Gesellschaft in allen Herausforderungen. Dein Bund bleibt in Ewigkeit und dein Wort und deine Gebote.
Gib deinen Frieden über dein geliebtes Volk und gib Frieden über uns. Amen.“

Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius) Gedenken zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht (Foto: Peter Möbius)

Bürgermeister Matthias Strejc verband das historische Datum mit den anderen Ereignissen deutscher Geschichte zu diesem besonderen Tag des 9. Novembers:
„Sehr geehrte Damen und Herren, wir gedenken gemeinsam seit vielen Jahren auf unserem jüdischen Friedhof der schrecklichen Ereignisse in der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Wir tun dies selbstverständlich auch an diesem 9. November 2015, einem Tag, an dem wir mit großer emotionaler Anteilnahme und Freude den 26. Jahrestag des „Falls der Mauer“ feiern. Der 9. November mit der Ausrufung der ersten deutschen Republik 1919, dem Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, der Pogromnacht 1938 und dem Mauerfall 1989 markiert ein herausragendes Datum in der deutschen Geschichte. Dieser „Schicksalstag der Deutschen“, der unterschiedliche historische Ereignisse in ihrer Erinnerungskultur miteinander verknüpft, steht wie kein anderer Tag für die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Bei aller berechtigten Freude über die unglaublichen Ereignisse heute vor 26 Jahren mit der Überwindung von Todesstreifen, Stacheldraht und Mauer zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West: das Geschehen vom 9. November 1938 kann und darf damit nicht in Vergessenheit geraten.

Der 9. November 1938 mit einem von den Nationalsozialisten heimtückisch in Szene gesetzten Pogrom an den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, bleibt für alle Zeiten das Symbol eines Zivilisationsbruchs, der von diesem Tag an zu einem systematisch organisierten Völkermord an sechs Millionen Juden führte und auch andere Minderheiten vernichtete. Die Pogromnacht vom 9. November ist zu einem Symbol der destruktiven Übergriffe antisemitischer Ausschreitungen geworden, zu einem Symbol der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ausrottungspolitik. Wohl auch aus Rücksicht auf das Gedenken und die Folgen dieses schrecklichen Tages in der deutschen Geschichte wurden ursprüngliche Überlegungen, den Tag des Mauerfalls in einem wiedervereinigten Deutschland zum Nationalfeiertag zu erklären, nicht weiter verfolgt.

Mit dem Gedenken an die Opfer der Pogromnacht ist es allein natürlich nicht getan. Eine glaubwürdige Erinnerungskultur setzt das Engagement jedes Einzelnen für die Werte unserer Demokratie und Wachsamkeit gegenüber ihren Feinden und Gegnern voraus.

Mein Dank gilt allen in dieser Stadt, die sich aktiv gegen jede Form von Intoleranz und Diskriminierung, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Hass und Gewalt zur Wehr setzen. Machen wir uns nichts vor: rechtes Gedankengut, Gewaltbereitschaft und Alltagsrassismus stellen nach wie vor eine gesellschaftliche Herausforderung dar, wie die jüngsten Entwicklungen in Deutschland zeigen. Hier ist der Rechtsstaat in seiner Wehrhaftigkeit zum Schutz und zur Einhaltung der demokratischen Grundrechte und -pflichten  gefordert. Aber es gibt auch neue rechtspopulistische Auffangbecken, die sich mit dem Deckmäntelchen des „Bürgerlichen“ umgeben. Wenn AfD-Politiker auf Landes- oder Kommunalebene durch rechtsradikale Äußerungen und partielle Kooperationen mit der NPD in den Medien bundesweit auf sich aufmerksam machen und selbst die Parteispitze unseren Justizminister mit Goebbels vergleicht. Umso wichtiger ist, auch in unserer Kleinstadt immer und immer wieder an die dunkle Seite deutscher Geschichte zu erinnern, damit ähnliches niemals wieder in unserem Heimatland, in keinem Land dieser Erde passiert.

Meine Damen und Herren, uns war und bleibt die Erinnerung an Reichspogromnacht von herausragender Bedeutung. Wir sind und bleiben das Gedenken den seinerzeit in ihrem unermesslichen Leid allein gelassenen Opfern des Pogroms schuldig.“

Anschließend wurden von den Anwesenden weiße Rosen auf die Gräber niedergelegt und Kerzen angezündet.
Wenn uns auch die gegenwärtigen Probleme und Alltagsgeschäfte schnell wieder einfangen, so ist es doch gut, wenn es eine Stunde der Besinnung gibt.

Text und Zusammenstellung: Peter Zimmer
Fotos: Peter Möbius
Autor: khh

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